Lilienthal: Die bahnbrechenden Erfindungen des Flugpioniers

Lilienthal: Die bahnbrechenden Erfindungen des Flugpioniers
Lilienthal: Die bahnbrechenden Erfindungen des Flugpioniers
 
Otto Lilienthal (1848—1896) war ein begabter Ingenieur, der zuerst als Angestellter Maschinen für den Bergbau entwickelte und später sehr erfolgreich eine eigene Fabrik für Dampfmaschinen betrieb. Seine Arbeiter beteiligte er am Erfolg der Fabrik, und er unterstützte ein Volkstheater mit Geldspenden. Gleichzeitig waren er und sein Bruder Gustav seit ihrer frühen Jugend an der Fliegerei interessiert. Ab 1867 betrieben die Brüder systematische Untersuchungen über Flügelprofile, Anstellwinkel und Ähnliches. 1889 veröffentlichte Otto Lilienthal sein Hauptwerk »Der Vogelflug als Grundlage der Fliegekunst«.
 
Zu dieser Zeit wandte er sich auch der experimentellen Fliegerei zu. Sein erstes Fluggerät namens Möwe trug ihn 7 m durch die Luft. Lilienthal konstruierte und erprobte in der Folgezeit über 30 Gleitflugzeuge, die im Normalsegelapparat kumulierten. Lilienthals Erfindungen und Flugversuche waren bahnbrechend und hatten viele Nachahmer. Letztendlich war die Fixierung auf den Vogelflug die Schwachstelle der lilienthalschen Flugapparate. 1896 stürzte Otto Lilienthal bei einem Flug über den Rhinower Bergen ab und starb an seinen Verletzungen.
 
Die Brüder Wright nahmen seine Forschungen auf und entwickelten das erste Motorflugzeug der Welt. Wilbur Wright schrieb 1901: »Der deutsche Ingenieur Otto Lilienthal lieferte wohl den größten Beitrag zur Lösung des Flugproblems, der je von einem Mann geleistet wurde.«
 
 Die Vorgänger Lilienthals
 
Fliegen zu können wie ein Vogel, ist ein uralter Traum der Menschheit. Die griechische Mythologie berichtet über einen genialen Erfinder namens Dädalus, der sich, zusammen mit seinem Sohn Ikarus, mit selbst gebauten Flügeln in die Lüfte erhob. Hier könnte sich eventuell das Wissen um frühe bronzezeitliche Flugpioniere niedergeschlagen haben. Im Skizzenbuch Leonardo da Vincis finden sich Pläne für Fluggeräte, die an moderne Gleitflugzeuge und Hubschrauber erinnern, und Albrecht Ludwig Berblinger (genannt Schneider von Ulm) stürzte mit seinem durchaus flugtauglichen halbstarren Hängegleiter am 31. Mai 1811 bei einem spektakulären Flug über Ulm in die Donau ab.
 
Ein anderes Flugprinzip, der Heißluftballon, war ab den ersten Flugversuchen der Brüder Montgolfier 1783 erfolgreicher. Im 19. Jahrhundert bevölkerten Ballons den Himmel über Europa und wurden in Kriegszeiten zu Aufklärungszwecken eingesetzt. Der große Nachteil der Ballons ist aber, dass sie sich nicht steuern lassen. Der Traum vom Fliegen wie ein Vogel blieb bestehen. In England brachte George Cayley ab 1804 Flugmodelle zum Fliegen, die alle wesentlichen Merkmale moderner Flugzeuge, wie Flügel, Höhen- und Seitenleitwerk, besaßen. Er konnte zeigen, dass bei geeigneter Schwerpunktlage eine negative Stellung des Höhenleitwerks und eine v-förmige Anordnung der Tragflächen die Voraussetzungen dafür sind, dass ein Flugzeug eigenstabil fliegt. Diese Erkenntnisse wurden von dem Franzosen Alphonse Pénault, der mit propellergetriebenen Flugzeugmodellen experimentierte, 1872 bestätigt.
 
 Otto Lilienthals Jugend
 
Otto Lilienthal wurde am 23. Mai 1848 in Anklam (Pommern) geboren. Sein Vater Gustav Lilienthal (1817—1861) war Tuchhändler, seine Mutter Caroline (1825—1872) Sängerin. Otto Lilienthals Bruder, Gustav, kam 1849 zur Welt. Lilienthals Vaters starb früh, seine Mutter verdiente den Lebensunterhalt für die Familie durch Musikunterricht und gelegentliche Auftritte als Konzertsängerin, und so wuchs er in bescheidenen wirtschaftlichen Verhältnissen heran. Er besuchte das Gymnasium in Anklam bis zur mittleren Reife (1864) und danach die Gewerbeschule in Potsdam (Reifezeugnis 1866: mit Auszeichnung). Nach einem Praktikum bei der Maschinenfabrik Schwartzkopff in Berlin studierte Lilienthal an der Gewerbeakademie in Charlottenburg Maschinenbau. Nach dem Examen im Juli 1870 nahm Lilienthal als Freiwilliger am Deutsch-Französischen Krieg teil.
 
 Lilienthals berufliche Karriere
 
Nach seinem Kriegsdienst arbeitete Lilienthal neun Jahre lang recht viel versprechend als Ingenieur und Konstrukteur und entwickelte und patentierte Maschinen für den Bergbau. 1878 heiratete er Agnes Fischer, die Tochter eines Bergmannes. 1881 gründete Lilienthal seine eigene Fabrik für Dampfkessel und Dampfmaschinen in Berlin. Er war als Unternehmer sehr erfolgreich und hatte ein starkes soziales Bewusstsein. Ab 1890 beteiligte er seine 60 Arbeiter am Gewinn der Fabrik, und ab 1892 engagierte er sich für ein Berliner Volkstheater. Von den 24 Patenten Lilienthals bezogen sich 20 auf seine technischen Geräte und vier auf Fluggeräte.
 
 Die Brüder Lilienthal als Flugpioniere
 
Otto Lilienthal und sein Bruder Gustav unternahmen bereits in ihrer Schulzeit (erfolglose) Flugversuche mit selbst gebastelten Flügeln. Während seines Studiums 1867/68 konstruierte Lilienthal zusammen mit seinem Bruder zwei Schlagflügelgeräte, die durch Muskelkraft betrieben wurden. Von 1871 bis 1875 unternahmen die Lilienthal-Brüder systematische Versuche mit ebenen und gewölbten Tragflächen an einem Rundlaufgerät, wobei ihnen ihre Schwester Marie beim Protokollieren der Messwerte behilflich war. Seit 1873 waren die Brüder auch Mitglieder der Aeronautical Society of Great Britain. 1874 wurde die gewölbte Form als ideale Form der Tragflächen von Fluggeräten erkannt und genaue Werte für Auftrieb und Luftwiderstand ermittelt. 1889 veröffentlichte Lilienthal sein Hauptwerk, das Buch »Der Vogelflug als Grundlage der Fliegekunst. Ein Beitrag zur Systematik der Flugtechnik«, in dem er die Ergebnisse seiner Versuche zusammenfasste.
 
 Otto Lilienthals Gleitflugzeuge
 
Nach der Veröffentlichung seines Buches wandte sich Lilienthal, nun ohne seinen Bruder Gustav, der experimentellen Fliegerei zu. Das erste Fluggerät namens Möwe (1889) bestand nur aus einem Flügel mit 11 m Spannweite. Die Flugversuche damit unternahm er in seinem Garten von einem 2 Meter hohen Sprungbrett aus. Er schaffte dabei Flüge bis zu 7 Meter. Weitere verbesserte Fluggeräte folgten: 1891 der Derwitzer Apparat (Flügelspannweite 5,50 m, Flüge bis 25 m), 1892 der Südende-Apparat (Flüge bis 80 m aus 10 m Absprunghöhe) und 1893 der Maihöhe-Rhinow-Apparat mit Höhen- und Seitenleitwerk, der einem rezenten Flugzeug schon recht ähnlich war. Mit diesem zusammenklappbaren fledermausähnlichen Fluggerät startete Lilienthal von einem 4 m hohen Schuppen auf der Maihöhe und später von einem 60 m hohen Hügel bei Rhinow in Brandenburg zu bis zu 250 m weiten Flügen. Dieses Fluggerät war das Vorbild für den patentierten Normalsegelapparat Lilienthals, der ab 1894 für 500 Reichsmark verkauft wurde. Vier dieser Normalapparate sind in Museen (London, Moskau, München, Washington) erhalten. Die Spannweite dieser Normalapparate lag bei 7 m, die Länge bei ca. 5 m und das Gewicht bei 20 kg. Das Sturmflügelmodell aus dem Jahre 1894 war ein verkleinerter Normalapparat für Flüge bei starkem Wind. 1895 erweiterte Lilienthal das Sturmflügelmodell um eine zweite Tragfläche und schuf so seinen ersten Doppeldecker — den kleinen Doppeldecker. Dessen hervorragende Flugeigenschaften veranlassten Lilienthal noch im gleichen Jahr, auch den Normalapparat mit einem zweiten Flügel zum großen Doppeldecker aufzurüsten. Neben diesen reinen Gleitflugzeugen experimentierte Lilienthal auch mit motorisierten Fluggeräten. Er setzte dabei allerdings auf den, wie man inzwischen weiß, nicht funktionierenden Schlagflügelantrieb: Am Ende der Hauptflügel wurden kleine Schlagflügel angebracht, die für zusätzlichen Auftrieb sorgen sollten. 1894 entstand so der kleine Schlagflügelapparat mit einem Kohlendioxid-Motor, der wenig ermutigende Resultate lieferte. Trotzdem baute Lilienthal 1896 einen weiterentwickelten Schlagflügelapparat, den großen Schlagflügelapparat, der ebenfalls mit einem Motor ausgerüstet war, aber nicht mehr erprobt werden konnte. Neben diesen teilweise erhaltenen und durch Baupläne und Fotografien gut dokumentierten Fluggeräten, baute Otto Lilienthal noch wesentlich mehr Fluggeräte (über 30), die er immer wieder im Detail verbesserte.
 
 Die Flugtechnik Lilienthals
 
Otto Lilienthal hatte vor seinen eigenen Flugversuchen bereits Experimente mit verschiedenen Flügelprofilen durchgeführt und die Form der gewölbten Tragfläche entwickelt. Bei seinen über 2000 Flügen verfeinerte er diese Form zur Tragfläche mit verdickter Vorderkante und scharfer Hinterkante. Dieses Bauprinzip ist heute noch gültig. Die Flugapparate Lilienthals bestanden aus einem mit Stoff überzogenen Gerippe, das mit Draht und Spannschlössern in Form gebracht wurde. Das Gerippe bestand aus vorgebogenem Weidenrohr und die Bespannung aus imprägniertem Baumwollstoff (Schirting). Die Flugapparate Lilienthals besaßen kein Fahrwerk, die Füße des Piloten mussten es ersetzen. Gesteuert wurden die Segler durch Schwerpunktverlagerung, also durch Veränderungen der Körperhaltung des Piloten, ähnlich wie moderne Flugdrachen. Der große Nachteil der lilienthalschen Gleitflugzeuge war ihre Instabilität. Moderne Segel- und Propellerflugzeuge sind so konstruiert, dass sie — beispielsweise durch eine Böe — aus der stabilen Fluglage gebracht, diese von selbst wieder einnehmen. Lilienthal hatte diese Eigenschaft bei seinen Konstruktionen nicht bedacht, was ihm zum Verhängnis werden sollte.
 
 
Durch seine Flugversuche wurde Otto Lilienthal weltweit bekannt. Hunderte schauten ihm dabei zu, unter ihnen andere Flugpioniere wie N. J. Shukowski aus Russland, Percy Pilcher aus England und Octave Chanute aus Frankreich. Mit den beiden Letzteren stand Lilienthal in persönlichem Kontakt. Die Fotografie hatte sich just zu jener Zeit so weit entwickelt, dass Momentaufnahmen möglich wurden, und Fotografien von Lilienthals Flügen gingen um die Welt. Im Frühjahr 1896 erhielt er eine Einladung zu einer Vortragsreise in die USA. Dazu sollte es aber nicht mehr kommen. Am 9. August 1896 traf eine Böe ganz unerwartet den Normalapparat Lilienthals und lenkte ihn in großer Höhe aus der Bahn. Dieser vermochte nicht, das wenig stabile Flugzeug durch eine Gegenbewegung seines Körpers zu stabilisieren, und so stürzte er ab und brach sich das Rückgrat. Einen Tag später starb er an seinen Verletzungen.
 
 Die Nachfolger Lilienthals
 
In Deutschland selbst fand Lilienthal keine Nachfolger. Dies lag wohl an dem enormen Erfolg der Luftschiffe des Grafen Zeppelin. Am 1. Juli 1900 machte der Zeppelin Z1 seine erste Fahrt über den Bodensee. Auch in Frankreich setzte man auf Luftschiffe. Alberto Santos-Dumont umrundete 1901 mit seinem Prallluftschiff den Eiffelturm. In England versuchte Percy Pilcher den Normalflugapparat Lilienthals zu verbessern, stürzte jedoch 1896 ebenfalls ab. In den USA bastelte der deutschamerikanische Mechaniker Gustave Whitehead (eigentlich Gustav Weißkopf) einen motorisierten Eindecker im Stile der lilienthalschen Modelle, mit dem er am 14. August 1901 zum ersten Motorflug vom Boden abhob. Seine Erfindung hatte aber keinen weiteren Einfluss auf die Luftfahrt. Die Brüder Wilbur (1867—1912) und Orville (1871—1948) Wright aus den USA hatten mehr Glück. Sie bauten und reparierten in Dayton/Ohio Fahrräder. In den Jahren bis 1899 beschafften sie sich alle verfügbare Literatur über den freien Flug, danach machten sie sich an die praktische Arbeit. Lilienthals Forschungs- und Versuchsergebnisse gehörten zu ihren wichtigsten Quellen. Die Wrights hatten sich aber vollständig vom Vogel als Vorbild ihres Fluggerätes gelöst. Ihr erstes Fluggerät von 1900 war eine Art Kastendrachen mit einem vorne liegenden Höhenruder und zwei hinten liegenden Seitenrudern. Die Steuerung erfolgte nämlich nicht mehr auf die akrobatische Art Lilienthals, sondern über Steuerruder. Die meisten Flugversuche wurden unbemannt durchgeführt. 1901 bauten sie sich einen Windkanal, um die Flügelform zu optimieren. Ihr Gleitflugzeug von 1902 war (als erstes Flugzeug überhaupt) um alle drei Achsen getrennt steuerbar. Nach diesen Erfolgen machten sie sich an die Konstruktion ihres ersten Motorflugzeugs. Ein selbst entwickelter Vierzylinder-Benzinmotor mit 16 PS trieb die beiden Propeller des Flyer I an, der sich am 17. Dezember 1903 zu seinem ersten gesteuerten Motorflug (12 Sekunden und wenige Meter über dem Boden, gesteuert von Orville Wright in Kitty Hawk/North Carolina) erhob. Der Flyer III von 1905 war das erste praktisch fliegbare Flugzeug und der Typ A von 1908 der erste Zweisitzer. Der erste Motorflug in Europa gelang Alberto Santos-Dumont im Herbst 1906 mit dem an wrightsche Konstruktionen angelehnten Fluggerät 14 bis. 1909 schließlich baute der Franzose Louis Blériot das erste Flugzeug in der Form, wie wir es heute kennen: ein Eindecker mit vorne liegendem Propeller und hinten liegendem Seiten- und Höhenruder.
 
 
Ein Jahrhundert Flugzeuge. Geschichte und Technik des Fliegens, herausgegeben von Ludwig Bölkow. Düsseldorf 1990.
 Jutta Wegener und Rolf Gevelmann: Otto Lilienthal. Erinnerungen an ein ungewöhnliches Leben. Berlin 1991.

Universal-Lexikon. 2012.

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